Die Hl. Ursula war nach der Legende die Tochter eines britischen Königs und Christin. Ein heidnischer Prinz bewarb um sie. Sie sagte zu, seine Frau zu werden unter der Bedingung, dass er selbst Christ werde und ihr die Möglichkeit gäbe, mit 11000 Jungfrauen auf drei Jahre nach Rom zu wallfahren. Sie kamen zu Schiff rheinaufwärts nach Basel und von dort auf dem Landweg nach Rom. Von Papst Cyriacus wurden sie empfangen. Die Heimfahrt ging wieder über Basel und zu Schiff rheinabwärts bis Köln. Hier aber hielt sie der Hunnen König Guan auf, der gerade Köln belagerte, und begehrte Ursula zur Frau. Sie weigerte sich, worauf sie und ihre 11.000 Begleiterinnen niedergemacht wurden. 11.000 Engel schlugen dann die Barbaren in die Flucht. Die befreiten Kölner aber bestatteten die Jungfrauen und errichteten ihnen eine Märtyrerkirche.
Auf dem hier wiedergegebenen Gemälde eines unbekannten spätgotischen Malers [Ein Abdruck davon hängt im Speisesaal des Tagesheims der Schule] ist der Überfall der Hunnen auf das Schiff der Hl. Ursula bei Köln dargestellt und kurzweilig abzulesen. Aus der grausigen Niedermetzelung der wehrlosen 11000 Jungfrauen hat der Maler eine lyrisch gestimmte, in schönen, fast heiter zusammenklingenden Farben sich darbietende Erzählung gemacht. Der Fluss sieht zwar kaum so aus wie der Rhein, und die feste Stadt am anderen Ufer hat keinerlei Ähnlichkeit mit Köln, zudem auch die Berge des Hintergrundes nicht passen wollen. Der Maler war wohl nie in Köln; aber es genügte ihm, ein Stück Landschaft, wie er sie in seiner vermutlich oberrheinischen Heimat, vielleicht am Bodensee, sah, andeutungsweise darzustellen. So bekommen wir zwar keine Vorstellung vom Aussehen des damaligen Köln, aber doch von einer süddeutschen Stadtansicht aus dem späteren 15. Jahrhundert mit Turm, Stadttor und Mauer, über welche die Giebel und ziegelroten Dächer der Häuser und Kirchtürme lustig aus ihrem sicheren Versteck herauslugen. Das diesseitige Flussufer im Vordergrund ist wie ein Teppich mit Gras und mancherlei Blumen in zierlichem genau durchgezeichneten Muster behandelt. Überhaupt hat das Bild etwas teppichhaft Flächiges und ist in Form und Farbe von ausgesprochen dekorativem Charakter.
Alles hat aber den Reiz kindlich unbekümmerter Erzählfreudigkeit. Natürlich haben 11 000 Jungfrauen keinen Platz in einem solchen Schiff, das uns an den Typ der mittelalterlichen Koggen erinnert. Aber es genügt dem Maler durchaus mit ein paar Frauen diese große Schar anzudeuten; Ursula ist durch den Heiligenschein hervorgehoben. Sie werden von den Pfeilen der Armbrüste durchbohrt, die ein paar Männer, die Verkörperung des Köln belagernden Barbarenheeres, in gezierten Stellungen abschießen. Der eine will gerade mit feinem Zweihänder den Bischof zerschmettern, auf den ein zweiter mit seiner Donnerbüchse zielt. Ein dritter mit keckem Hütchen auf dem Kopf zieht mit einer Art Enterhaken das Schiff näher ans Land. Auch diese fünf "Hunnen" in ihren spätgotisch gespreizten, etwas verschroben, aber doch nicht unlebendig wirkenden Stellungen sind uns interessante Dokumente der spätmittelalterlichen Waffen- und Kostümkunde. Die Kleidung jener Zeit ist zierlich, betont die schlanken, gern in eckiger Bewegung dargestellten Körper und trägt einen sehr spielerischen Charakter. Auch sie ist ein getreuer Spiegel jener Zeit des ausgehenden Mittelalters, die bald von den größeren, gewichtigeren Formen und Moden der klassischen Dürerzeit abgelöst werden sollte.
Der Stil dieses reizenden Bildes deutet auf den Oberrhein, in die Gegend des Bodensees. Es dürfte zwischen 1470 und 1480 gemalt sein; darauf weisen auch die Waffen und Kostüme hin.
Text von Hans Möhle